Der Traum

Wenn ich ein Bild malen würde von dem, was ich mir für die Kinder dieser Erde erträume…

Dann sähe das so aus:

Es ist ein kühler Frühlingsmorgen. Valerie erwacht als Erstes, ihre Geschwister schlafen noch. Sie steht leise auf, zieht sich eine Jacke über und schlüpft barfuß aus dem Zelt. Huh. Das nasse Gras ist kalt und kitzelt ihre Zehen. Die Blumen malen Schatten aufs Gras. Sie hüpft und spielt, dass sie nur in die Sonnenflecken treten darf. Sie fühlt sich so lebendig. So gut. So vollkommen gut. Wie die Sonne. Sie riecht Rauch und schaut auf. Reiner steht am Feuer. Das ist gut. Reiner kocht so leckeren Gewürz-Porridge. Schnell läuft Valerie zu ihm und begrüßt ihn. „Willst du einen Tee?“, fragt Reiner. Er sammelt gerne Kräuter und kann stundenlang darüber sprechen. Valerie findet das ein bisschen langweilig, aber sein Tee schmeckt ihr trotzdem besonders gut. Er hält ihr eine dampfende Tasse hin. Der Porridge ist auch gleich fertig, sagt er, und Valerie ist froh. Sie setzt sich ans Feuer und wärmt ihre Füße. Kleine Grasstücke kleben daran. Sie nippt am heißen Tee. Hmmm.

Sie hört leise Gitarrenklänge. Manu oder Willi? Dann mischt sich eine leichte Frauenstimme dazu: Manu. Plötzlich steht Pia neben ihr. Pia ist erst zwei Jahre alt – fast noch ein Baby, findet Valerie. Aber als Pia sich an sie schmiegt, legt sie ihre Jacke um sie beide und gibt ihr vorsichtig etwas vom Tee.

Da kommt Mama mit Sia auf dem Arm. Sie sieht müde aus – vielleicht hat Sia in der Nacht wieder geweint. Reiner bietet Sia seine Arme an und Sia lässt sich von Mamas Arm in seinen fallen. „Danke“, sagt Mama und lächelt Reiner an. „Ist es okay, wenn ich mich nochmal hinlege?“, fragt Mama.

„Klar“, sagt Reiner. Er freut sich immer, wenn er ein Baby halten darf. Er hat mir mal gesagt, dass er den Geruch so toll findet und dann immer heimlich an ihnen schnuppert.

Ich schiele rüber – ob er gerade an meiner Schwester riecht… Ja! Er hat die Nase an ihr Haar gedrückt.

Ich muss lächeln – irgendwie lustig, dass so ein großer Mann, der selber keine Kinder hat, so gerne an Babyhaaren riecht.

Reiner und Sia verstehen sich prächtig: Sie gluckst vor Vergnügen, als er sie hochwirft.

Maya kommt und bringt Schüsseln für den Porridge mit – endlich Frühstück!

Manu will wie immer vorher singen. Manchmal nervt mich das – aber heute ist es okay, wenn es nicht zu lange dauert. Außerdem hat sich Manu einen witzigen Tanz ausgedacht, damit uns warm wird.

Es macht so viel Spaß, dass es ein bisschen länger dauert – wir sitzen erst Minuten später schnaufend wieder am Feuer und ich löffle endlich den köstlichen warmen Brei.

Dieses Bild ist KI generiert.

Nach und nach trudelt unser ganzer Clan ein: Manche wollen lieber alleine essen, weil sie morgens Ruhe brauchen – aber nicht wir Kinder.

Wir sitzen alle zusammen – das fühlt sich so richtig gut an.

Wir erzählen uns unsere Träume aus der letzten Nacht und planen, was wir als Nächstes spielen.

Da kommt Manu zu uns und erzählt uns, dass sie heute zum Fluss wandern will – um dort mit dem Fluss Gitarre zu spielen. Ich verstehe das nicht ganz – aber wir dürfen nicht ohne Begleitung zum Fluss; deshalb nehmen wir jede Gelegenheit wahr.

Am Fluss gibt es wilde Himbeeren und ganz besonders schöne Steine, die im Sonnenlicht funkeln. Außerdem wollen wir nach den Kaulquappen schauen, die in den ruhigeren Nebentümpeln leben.Wie weit sie heute wohl sind?

Paul und Jesaja wollen lieber im Dorf bleiben: Paul hat gerade ein Pony bekommen und möchte es zähmen – weil es noch nicht so zutraulich ist. Es hat wohl einige schlimme Sachen erlebt in der Vergangenheit. Ich überlege kurz, ob ich auch hierbleibe – aber das Pony ist auch morgen noch da.

Die kleineren Kinder bleiben ebenfalls im Dorf: Maya will mit ihnen in der Kinderyurte spielen und ihnen die neuen niedrigen Kletterbäume zeigen — die Jan und Willi gestern zusammen aus dem Wald geholt haben.

Bevor wir losgehen schreibt Manu alle unsere Namen auf eine Tafel: Die Flusskinder — damit unsere Eltern wissen, wo wir sind; im Notfall natürlich… Das sagen sie immer: Im Notfall!

Aber was so ein Notfall sein soll weiß ich nicht…

Früher – als wir noch nicht im Dorf lebten –, da kannte ich solche Notfälle: Wenn wir kurzfristig einen Arzttermin hatten oder Mama plötzlich woanders hinmusste oder Papa länger bei der Arbeit war… Dann war das ein Notfall! Dann mussten alle schnell miteinander sprechen und alles war sehr eilig — damit alles gut klappt… Da war immer dieses Gefühl: Als würde mich ständig jemand von hinten schieben…

Ich konnte nie gerade gehen — weil entweder habe ich mich gegen das Schieben gewehrt oder bin schneller gegangen um dem Druck zu entkommen…

Jetzt kann ich einfach ganz gerade sein — immer genau da wo ich gerade gehe oder stehe…

Ganz aufrecht zum Himmel!

Und der einzige Grund warum ich gehe oder stehenbleibe ist: Weil ich es so will!

Ich mag es hier richtig gern — auch wenn mich Sachen manchmal nerven wie zum Beispiel die neue Rennstrecke, die sich die älteren Jungs gewünscht haben… Aber ich freue mich auch für sie! Sie sehen so richtig zufrieden aus — wenn sie mit ihren Kettcars und Mountainbikes aus dem Wald kommen…

Oft mit Schrammen an den Beinen oder Beulen… Die vergleichen sie dann miteinander — wer am meisten Schaden genommen hat… Als sei das eine Ehre!

Das Gute daran: Wenn sie ausgepowert sind — sind sie auch richtig nett! Wenn man ihnen mal was fragt…

Neulich hat mir Erik geholfen mein Puppenbett zu schleifen (schmirgeln) — als Paul kam und gelacht hat… Da hat er ihm einfach das Papier in die Hand gedrückt — Paul hat mitgemacht!

Eigentlich kann hier jedes Kind genau das machen was ihm gut tut — das ist das Allerbeste!

Jan hat mir letzte Woche mal aus der Bibel vorgelesen; da wurde das Paradies beschrieben…

Ich konnte eigentlich keinen großen Unterschied feststellen zu unserem Dorf auf der Erde…

Was wäre in so einem Himmelsgarten anders?

Ich weiß nicht… Ob ich mich besser fühlen würde wenn alles golden wäre oder so…

Denn eigentlich fühle ich mich ja schon genau richtig!

Ich hoffe wirklich sehr — dass alle Kinder irgendwann an einem solchen schönen Ort leben können…

Wobei die Erde eigentlich überall schön ist… Hauptsache alle sind dabei:

Reiner, Jan, Willi, Maya, Manu — und alle anderen…